„The Big One“ kommt noch
Von Barbara Munker (dpa)
San Francisco
17. Oktober 1989, 17.04 Uhr: Im US-Fernsehen läuft ein wichtiges Baseballspiel, das Sportstadion in San Francisco ist voll besetzt, als der San-Andreas-Graben auf einer Länge von 35 Kilometern aufreißt. Knapp 100 Kilometer südlich von San Francisco, nahe dem Loma-Prieta-Berg, liegt das Epizentrum des stärksten Bebens in Kalifornien seit dem großen Beben von 1906. Millionen Zuschauer am Bildschirm erleben den Erdstoß der Stärke 6,9 mit. Sekunden später ist das Bild schwarz. San Francisco wird zur Katastrophenzone.
Für den Kinder- und Unfallchirurg Dr. James Betts beginnt ein Einsatz, den er 25 Jahre danach noch als „entsetzlich“ beschreibt. „Ich denke täglich daran zurück“, sagt der 67 Jahre alte Arzt, Leiter der Chirurgie des Benioff-Kinderkrankenhauses in Oakland. „Nicht etwa, weil ich unter posttraumatischem Stress leide, sondern weil wir wissen, dass ein noch stärkeres Beben täglich passieren könnte, mit viel mehr Zerstörung und Zehntausenden Opfern.“
Betts und viele hundert Nothelfer riskierten ihr eigenes Leben, um Überlebende aus dem eingestürzten Cypress Freeway zu retten. Die obere Trasse der doppelstöckigen Schnellstraße, nahe der Bay Bridge, die San Francisco und Oakland verbindet, war eingebrochen. Die Betonmassen hatten Dutzende Menschen in ihren Autos begraben, 42 fanden hier den Tod.
Der sechsjährige Julio Berumen war auf dem Rücksitz hilflos mit beiden Beinen eingeklemmt. Die Straßentrümmer hatten seine Mutter am Steuer und eine Beifahrerin erdrückt. Betts und sein Team bahnten sich trotz der Einsturzgefahr einen Weg zu den Opfern. Mit einer Säge musste er eine der Leichen zerteilen, um das linke Bein des Jungen freizulegen. Dann amputierte er Julios rechtes Bein am Knie. Betts operierte bäuchlings in einem niedrigen Hohlraum im Schein einer Notlampe. „Wir hatten einfach keine andere Wahl“, sagt Betts. „Ich dachte nur daran, dass ich das Leben des Jungen retten muss, allein schon um der Helfer wegen, die ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten.“
Die Rettung Julios und seiner achtjährigen Schwester Cathy war ein Lichtblick im Desaster. Das Beben forderte 63 Menschenleben, der Schaden wurde mit zehn Milliarden Dollar beziffert. Das beliebte Marina-Viertel in San Francisco, nahe am Meer, lag in Schutt und Asche. Die Bay Bridge war unbefahrbar. Ein 20 Meter langes Stück der oberen Trasse war auf die untere Fahrbahn gekracht. Ein Autofahrer fuhr in den Tod.
Der Geophysiker Brad Aagaard von der wissenschaftlichen Behörde USGS (United States Geological Survey) in Menlo Park hat das Beben mit ausgefeilter Computertechnik als 3D-Modell simuliert. Mit Hilfe von Supercomputern können die Experten berechnen, wie sich die seismischen Wellen ausbreiten und wo der Boden am heftigsten schwankt. „Heute haben wir viel mehr Messgeräte in den Gefahrenzonen und können Daten viel schneller auswerten“, sagt Aagaard mit Blick auf die nächste Katastrophe.
Erdbeben sind noch nicht vorhersagbar, aber die Forscher arbeiten an einem besseren Frühwarnsystem. Ziel ist es, im Falle eines schweren Bebens sekundenschnell die Bevölkerung zu alarmieren. Ein Prototyp wird in Kalifornien getestet. Der U-Bahnverbund BART in San Francisco ist daran beteiligt. Ein größerer Erdstoß könnte Sensoren aktivieren, die dann automatisch fahrende Züge zum Halten bringen. 2013 verabschiedete der Staat ein Gesetz, das die Entwicklung eines Frühwarnsystems vorschreibt. Doch für eine schnelle Umsetzung fehlt in Kalifornien das Geld.
Milliardensummen hat der Westküstenstaat in den vergangenen 25 Jahren in die Verstärkung von Brücken, Dämmen, Wasser- und Gasleitungen investiert. Allein der Neubau der östlichen Bay-Bridge-Hälfte verschlang mehr als sechs Milliarden Dollar. Die alte Struktur war nicht bebensicher, doch der Bau schleppte sich hin. Erst vor einem Jahr wurde die neue Brücke eingeweiht.
Einen teuren „Weckruf“ erlebte die Region im vorigen Monat, als in dem Weinbaugebiet Napa Valley in der Nacht die Erde bebte. Mit einer Stärke von 6,0 war es das schwerste Beben in der Bay Area seit 1989. Der Schaden: mehr als 300 Millionen Dollar.
Am gestrigen Donnerstag rüttelten die Behörden mit einer Beben-Übung Kalifornien auf. Beim „California ShakeOut“ sollten Millionen Menschen mitmachen. In Schulen, Büros und Geschäften wurde der Ernstfall geprobt, Gebäude evakuiert, Leute informiert.
Auch James Betts ist als Ehrengast zu einer Gedenkfeier für die Bebenopfer eingeladen. Er sei kein Held, wehrt der Chirurg ab. „Ich war nur einer von Tausenden, die damals so gut sie konnten halfen.“
Er zweifelt daran, dass die Bevölkerung wirklich für „The Big One“ (Das große Beben) gerüstet ist. „Jeder sollte ausreichend Wasser und Verpflegung für zwei Wochen haben“, meint der Arzt. Loma Prieta sei nur ein leichtes Zittern gewesen. Vor allem im Vergleich zu 1906. Das damalige Beben der Stärke 7,8 und das nachfolgende Feuer töteten etwa 3000 Menschen. Rund 28 000 Häuser wurden zerstört, die Hälfte der Bevölkerung war plötzlich obdachlos.
San Francisco
17. Oktober 1989, 17.04 Uhr: Im US-Fernsehen läuft ein wichtiges Baseballspiel, das Sportstadion in San Francisco ist voll besetzt, als der San-Andreas-Graben auf einer Länge von 35 Kilometern aufreißt. Knapp 100 Kilometer südlich von San Francisco, nahe dem Loma-Prieta-Berg, liegt das Epizentrum des stärksten Bebens in Kalifornien seit dem großen Beben von 1906. Millionen Zuschauer am Bildschirm erleben den Erdstoß der Stärke 6,9 mit. Sekunden später ist das Bild schwarz. San Francisco wird zur Katastrophenzone.
Für den Kinder- und Unfallchirurg Dr. James Betts beginnt ein Einsatz, den er 25 Jahre danach noch als „entsetzlich“ beschreibt. „Ich denke täglich daran zurück“, sagt der 67 Jahre alte Arzt, Leiter der Chirurgie des Benioff-Kinderkrankenhauses in Oakland. „Nicht etwa, weil ich unter posttraumatischem Stress leide, sondern weil wir wissen, dass ein noch stärkeres Beben täglich passieren könnte, mit viel mehr Zerstörung und Zehntausenden Opfern.“
Betts und viele hundert Nothelfer riskierten ihr eigenes Leben, um Überlebende aus dem eingestürzten Cypress Freeway zu retten. Die obere Trasse der doppelstöckigen Schnellstraße, nahe der Bay Bridge, die San Francisco und Oakland verbindet, war eingebrochen. Die Betonmassen hatten Dutzende Menschen in ihren Autos begraben, 42 fanden hier den Tod.
Der sechsjährige Julio Berumen war auf dem Rücksitz hilflos mit beiden Beinen eingeklemmt. Die Straßentrümmer hatten seine Mutter am Steuer und eine Beifahrerin erdrückt. Betts und sein Team bahnten sich trotz der Einsturzgefahr einen Weg zu den Opfern. Mit einer Säge musste er eine der Leichen zerteilen, um das linke Bein des Jungen freizulegen. Dann amputierte er Julios rechtes Bein am Knie. Betts operierte bäuchlings in einem niedrigen Hohlraum im Schein einer Notlampe. „Wir hatten einfach keine andere Wahl“, sagt Betts. „Ich dachte nur daran, dass ich das Leben des Jungen retten muss, allein schon um der Helfer wegen, die ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten.“
Die Rettung Julios und seiner achtjährigen Schwester Cathy war ein Lichtblick im Desaster. Das Beben forderte 63 Menschenleben, der Schaden wurde mit zehn Milliarden Dollar beziffert. Das beliebte Marina-Viertel in San Francisco, nahe am Meer, lag in Schutt und Asche. Die Bay Bridge war unbefahrbar. Ein 20 Meter langes Stück der oberen Trasse war auf die untere Fahrbahn gekracht. Ein Autofahrer fuhr in den Tod.
Der Geophysiker Brad Aagaard von der wissenschaftlichen Behörde USGS (United States Geological Survey) in Menlo Park hat das Beben mit ausgefeilter Computertechnik als 3D-Modell simuliert. Mit Hilfe von Supercomputern können die Experten berechnen, wie sich die seismischen Wellen ausbreiten und wo der Boden am heftigsten schwankt. „Heute haben wir viel mehr Messgeräte in den Gefahrenzonen und können Daten viel schneller auswerten“, sagt Aagaard mit Blick auf die nächste Katastrophe.
Erdbeben sind noch nicht vorhersagbar, aber die Forscher arbeiten an einem besseren Frühwarnsystem. Ziel ist es, im Falle eines schweren Bebens sekundenschnell die Bevölkerung zu alarmieren. Ein Prototyp wird in Kalifornien getestet. Der U-Bahnverbund BART in San Francisco ist daran beteiligt. Ein größerer Erdstoß könnte Sensoren aktivieren, die dann automatisch fahrende Züge zum Halten bringen. 2013 verabschiedete der Staat ein Gesetz, das die Entwicklung eines Frühwarnsystems vorschreibt. Doch für eine schnelle Umsetzung fehlt in Kalifornien das Geld.
Milliardensummen hat der Westküstenstaat in den vergangenen 25 Jahren in die Verstärkung von Brücken, Dämmen, Wasser- und Gasleitungen investiert. Allein der Neubau der östlichen Bay-Bridge-Hälfte verschlang mehr als sechs Milliarden Dollar. Die alte Struktur war nicht bebensicher, doch der Bau schleppte sich hin. Erst vor einem Jahr wurde die neue Brücke eingeweiht.
Einen teuren „Weckruf“ erlebte die Region im vorigen Monat, als in dem Weinbaugebiet Napa Valley in der Nacht die Erde bebte. Mit einer Stärke von 6,0 war es das schwerste Beben in der Bay Area seit 1989. Der Schaden: mehr als 300 Millionen Dollar.
Am gestrigen Donnerstag rüttelten die Behörden mit einer Beben-Übung Kalifornien auf. Beim „California ShakeOut“ sollten Millionen Menschen mitmachen. In Schulen, Büros und Geschäften wurde der Ernstfall geprobt, Gebäude evakuiert, Leute informiert.
Auch James Betts ist als Ehrengast zu einer Gedenkfeier für die Bebenopfer eingeladen. Er sei kein Held, wehrt der Chirurg ab. „Ich war nur einer von Tausenden, die damals so gut sie konnten halfen.“
Er zweifelt daran, dass die Bevölkerung wirklich für „The Big One“ (Das große Beben) gerüstet ist. „Jeder sollte ausreichend Wasser und Verpflegung für zwei Wochen haben“, meint der Arzt. Loma Prieta sei nur ein leichtes Zittern gewesen. Vor allem im Vergleich zu 1906. Das damalige Beben der Stärke 7,8 und das nachfolgende Feuer töteten etwa 3000 Menschen. Rund 28 000 Häuser wurden zerstört, die Hälfte der Bevölkerung war plötzlich obdachlos.
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Allgemeine Zeitung
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