NUR 24 ZEILEN (60. Folge)

DANN STAND SIE VOR MIR (Kapitel 18, Teil 2/2)

Viele Tage muss sie bis zu diesem Donnerstag warten, mit klopfendem Herzen, mit Angst, mit Abwehr, aber auch mit Neugier. Als es so weit ist, leiht sie sich ein Auto, fährt zum Bahnhof. Sie wartet auf dem Bahnsteig, läuft nervös hin und her (später erinnert sie sich, dass sie ein kornblumenblaues Kleid getragen hat). Dann hört sie ein Tuten, der Zug fährt ein und hält mit schnaufenden Bremsen. Noch bevor er zum Stillstand gekommen ist, springt Kurt als Erster aus dem Zug. Als er auf sie zukommt, mit seinem typischen Eilschritt und einem strahlenden Lächeln im Gesicht, ist es, als sei er nie fort gewesen. Ja, er ist älter geworden, man sieht es ihm an, aber seine Stimme, seine temperamentvollen Gesten – wie er den Koffer hinstellt und seine Arme nach ihr ausstreckt! –, sein lautes Lachen, das alles hat sich nicht verändert. Er empfindet diesen Augenblick ganz ähnlich: Sie stand vor mir, so wie ich sie immer vor mir gesehen hatte.

Vom Bahnhof fahren sie zunächst zum Waldorf-Hotel. Dort trinken sie einen Kaffee, plaudern und finden sofort eine noch unbekannte Gemeinsamkeit: Beide lieben sie den Maler van Gogh und haben das gleiche Sonnenblumenbild von ihm in ihrer Wohnung hängen, Hildegard als gerahmten Druck, Kurt nur als Postkarte. Die Unterhaltung ist abtastend, forschend.

„Ich bin froh, dass ich nicht im trockenen Südwestafrika lebe und dort unterrichte“, sagt Hildegard zu Kurts Entsetzen, aber er reagiert nicht darauf. Er vertraut auf seinen guten Stern. Dann fahren sie in Hildegards Pension. Dort stehen ihre gepackten Koffer, bereit für die Abfahrt nach Durban am nächsten Morgen. Sie erzählt ihm von ihren Reiseplänen, scheint sich auf den Urlaub zu freuen, Familie und Freunde wissen Bescheid. Die Lage für Kurt wird immer hoffnungsloser. Er lädt sie zum Abendessen ein. „Vielleicht sehen wir uns danach nicht wieder.“

Sie willigt ein, sie gehen aus, und Kurt bringt sie wieder nach Hause.

Und dann entscheidet sich alles in wenigen Augenblicken. Er nimmt sie in den Arm, küsst sie und flüstert: „Fahre nicht fort. Heirate mich.“

In diesem Moment, schreibt Hildegard später, fiel alles Schwere von mir ab, und sie sagt den erlösenden Satz: „Nie wieder in all den Jahren habe ich jemanden so geliebt wie Dich!“

Noch am selben Abend bestellt Hildegard die Reise nach Durban ab, den Freund muss sie am nächsten Morgen benachrichtigen. Leicht wird dieser Gang nicht gewesen sein. Einen Tag später geben Hildegard und Kurt ihre Verlobung offiziell bekannt. Am 16. Dezember 1949 heiraten sie in der deutsch-evangelischen Martini-Kirche in Kapstadt.

Zuvor müssen sie sich noch einmal trennen, denn Kurt muss zurück nach Lüderitz, Hildegard bis zum Ende des Jahres noch an ihrer Schule in Kapstadt bleiben. Aber jetzt ist alles anders. Sie schreiben sich täglich die schönsten Liebesbriefe.

Mein lieber, lieber Kurt!

Wie soll ich nur anfangen, Dir zu sagen, wie es in meinem Herzen aussieht, es ist übervoll, voll Sehnsucht und Verlangen nach Dir. Meine Gedanken eilen zu Dir und sagen Dir viel schneller, viel mehr, als meine Feder es tun kann. Ich schreibe und schreibe, die Feder flitzt nur so übers Papier, aber plötzlich geht’s nicht mehr, denn Du denkst an mich und Du rufst mich so stark, dass meine Hand stillhält und ich bei Dir verweile ... wenn ich dann wieder um mich schaue, bin ich ganz erstaunt, dass ich in meinem Zimmer bin. Wie wunderschön war es die letzten Wochen, wenn deine Briefe eintrafen und erst vor wenigen Tagen geschrieben waren, jedes Erlebnis, jeder Gedanke noch so unmittelbar in der Gegenwart, alles, was Du erlebt hast, war ja noch in dieser Woche geschehen, und ich stellte fest, dass wir uns immer wieder in Gedanken begegnet sind, das war so beglückend – und so anders als in den früheren Briefen, die oft monatelang unterwegs waren.

Kurt, dass Du gekommen bist! Wie reich und voll das Leben wieder geworden ist durch Dich. Und vielleicht haben diese vergangenen Jahre doch einen Sinn gehabt. Denn vorher habe ich doch manchmal gezweifelt, ob es wirklich so etwas geben könne, dass zwei Menschen unbedingt zueinander gehören und der eine ohne den anderen nicht sein kann. Nun weiß ich genau, dass ich ohne Dich nicht glücklich sein kann.

Du hast mich, Gott sei Dank, nicht losgelassen. Als Du am Donnerstagabend bei mir im Zimmer warst, da schien alle Schwere von mir abzufallen. Ich habe lange nicht mehr so klar und hell denken können wie in diesen letzten vier Wochen. Ich war ja ganz fertig, als Du kamst, und hätte nicht mehr lange so weitermachen können.

Weisst Du, ich habe in diesen Wochen oft nachgedacht und ich sage es nicht, weil es schön und einfach klingt, aber ich bin fest davon überzeugt, dass ich früher oder später doch noch den Weg zu Dir gegangen wäre, wenn Du nicht gekommen wärst.

Du hast mich ja so gerufen, so zu Dir gezogen. Oft, wenn ich von der Schule nach Hause kam, dachte ich, es würde vielleicht ein Brief von Dir da sein, wenn ein Telephonanruf kam, ging ich aufgeregt hin und dachte, Du könntest es sein. Aber Angst davor hatte ich auch, denn ich wusste nicht, was dann folgen würde ... und doch – als Du es wirklich warst, da habe ich nur noch Deinen Namen gehört, Deine Stimme und dass Du am Donnerstag kommen wolltest. Sonst weiß ich nichts mehr ... bis zu dem Augenblick, wo Du mich nahmst und küsstest und ich wusste, dass ich Dich liebte, dass es ja eigentlich immer so gewesen war und immer so sein musste.

Wie glücklich hast Du mich gemacht, wie leicht und hoffnungsfroh. Wie hast Du mir Mut und Kraft gegeben, wie hast Du mich gelöst und frei gemacht von allem, was mich beengt und bedrückt hat. Die zehn Wochen bis zu unserem Wiedersehen erscheinen mir fast länger als die vergangenen zehn Jahre.

Zwei Mal noch besucht Kurt in den nächsten Monaten seine Verlobte in Kapstadt und zwei Mal fährt Hildegard nach Lüderitzbucht, um sich anzuschauen, wo sie die nächsten Jahre ihres Lebens verbringen wird.

Die Jahre in Lüderitz werden die glücklichsten ihres Lebens, trotz schwieriger Anfangsbedingungen, denn sie müssen im Internat leben, haben nur zwei winzige Zimmer als Wohnung, und schon bald erwartet Hildegard ihr erstes Kind – inmitten von 72 Kindern im Schülerheim.

Dazu kommt die Umstellung vom lieblichen Kap auf die trostlose Wüste. Aber das Geheimnis, das alle Probleme nichtig erscheinen lässt, ist, so schreibt Kurt, das Wissen um unsere tiefe gegenseitige Liebe und die Erfahrung der überstandenen zehnjährigen Trennung. Es macht unser Leben intensiv, bewußt, selbstsicher und erfüllt.