NUR 24 ZEILEN (25. Folge)
Eine wahre Geschichte über den Krieg, die Liebe und den langen Weg zurück nach Afrika
Geschichte, südliches Afrika, II. Weltkrieg, Internierung, Kurt Falk, Erika von Wietersheim, Gefangenenlager, „nur 24 Zeilen“
IN AUSTRALIEN (Kapitel 9, Teil 1/4)
Noch am selben Tag werden die Gefangenen mit dem Zug ins Innere des Landes gebracht, nach Tatura, einer Kleinstadt im südlichen Bundesstaat Victoria. Dort und woanders haben die Australier schon mehrere Lager für die Tausenden von Kriegsgefangenen und Internierten, die aus England ankommen, vorbereitet. Die Lager sind weit von den australischen Städten entfernt, damit die Insassen keinen Kontakt zur australischen Bevölkerung aufnehmen können. Kurts Lager besteht aus achtzehn Baracken in Reih und Glied, einem großen Speisesaal und ein paar Wirtschaftsgebäuden, ringsherum ein doppelter Stacheldraht und ein Wachturm mit Scheinwerfern an jeder Ecke. Um das Lager, so weit das Auge reicht, nichts als Einöde. Ein Lager am Ende der Welt. Langsam lernen die Männer, wieder auf festem Boden zu stehen, drei Mahlzeiten am Tag an einem Tisch sitzend einzunehmen und sich selbst menschenwürdige Lebensumstände zu schaffen. Das australische Klima ist ungewohnt trocken, und es geht auf einen heißen Sommer zu. Weihnachten, denkt Kurt, wird wie in Südafrika im Hochsommer sein.
Genau ein Jahr ist vergangen, seitdem Kurt Südafrika bei Nacht und Nebel verlassen hat, um seine Freiheit zu behalten – nur um sie hoffnungslos zu verlieren. Es ist kaum zu glauben, was er in diesem Jahr durchgestanden und überlebt hat: die heimliche 2000 Kilometer lange Fahrt von Kapstadt bis an die Grenze Südafrikas, dann 110 Kilometer zu Fuß durch den dichten, dornigen Busch in Swasiland. In Lourenço Marques: Malaria. Das Warten auf ein Schiff, das ihn in die Heimat bringen soll, die Abfahrt auf der deutschen Uhenfels als schwer arbeitender rußiger Kohlentrimmer und dann der Anfang des Unglücks: die Beschlagnahme durch ein britisches Schiff, der Beginn der Gefangenschaft, das Scheitern aller Pläne. Das Lager im schwülen Regenwald, Verschiffung nach England, weitere Lager, der Tunnelbau und noch einmal Hoffnung auf Freiheit. Dann 28 Tage Isolationshaft, unerträgliche Einsamkeit. Das Betreten der Arandora Star, ein Tag später der Sprung von der Reling, der steil aufgerichtete Rumpf des untergehenden Schiffs, der gefährliche Sog in die Tiefe, als es im Meer verschwindet, der sich schnell ausbreitende Ölteppich, Hunderte von schreienden Kameraden und Mitinternierten, die vor seinen Augen ertrinken. Die vielen Stunden in der Kälte und Weite des Meeres, dann die Rettung des nackten Lebens. Wieder in einem Lager in England, und schon eine Woche später auf einem neuen Dampfer, der Dunera. Zwei Monate im dunklen Bauch des Schiffs mit Hunderten von Mitgefangenen auf engstem Raum, brutale Schikane durch die Aufseher, keine frische Luft. Schließlich die ersten Schritte an Land auf einem Kontinent, der weiter weg nicht sein könnte – von zu Hause, von Südafrika.
Was hat Kurt in dieser Zeit die Kraft gegeben, nicht aufzugeben, seinen Verstand nicht zu verlieren? In seinem ersten Brief aus Australien an Hildegard findet man noch einmal eine klare Antwort: Als ich vom Schiff aus ins Wasser sprang, um mein Leben zu retten, hielten mich nur zwei Gedanken aufrecht: der Gedanke an meine Mutter, die ich vor einer zweiten Todesnachricht einer ihrer Söhne bewahren wollte, und der starke und feste Wille, Dich wiederzusehen und gemeinsam mit Dir meinen zukünftigen Weg zu gehen.
Nur langsam erholen sich die Internierten von den Strapazen und Entbehrungen auf der Dunera, dem Schiff, das Jahre später als der berüchtigtste Gefangenentransport in die britische Kriegsgeschichte eingehen wird. Im Jahr 1941 ordnet das britische Kriegsministerium unter zunehmendem Druck der britischen Öffentlichkeit eine Untersuchung an und stellt die Offiziere der Dunera vor ein Kriegsgericht. Das Ergebnis der Untersuchung wird geheim gehalten, doch werden die Betreffenden degradiert, aus den Streitkräften entlassen oder zu Militärgefängnisstrafe verurteilt.
Gleich nach seiner Ankunft im australischen Lager schreibt Kurt nach vielen Monaten des unfreiwilligen Schweigens einen Brief nach Kapstadt, wo Hildegard sehnsüchtig und voller Unruhe auf Post wartet. Die Catholic Welfare Organisation stellt den Internierten Briefpapier zur Verfügung, später auch das Rote Kreuz und die Australian Young Men’s Christian Association. In der rechten oberen Ecke des Briefpapiers steht auf jeder Seite die ironische Aufforderung: „It is not sufficient to live, but to live well.“ – Nicht nur leben solle man, sondern gut leben!
Anstatt in der damals üblichen Sütterlinschrift verfassen die deutschen Gefangenen in den ersten Monaten ihre Briefe in gut lesbarer lateinischer Druckschrift, denn jeder Brief wird von einem Zensor gelesen, bevor er den Stempel „Passed by Censor – Services of Prisoners of War” bekommt. Einige Briefe kommen mit herausgeschnittenen Vierecken an. Das vorgegebene Briefformat ist nicht größer als eine halbe Schreibmaschinenseite und das Papier darf nur einseitig beschrieben werden. Genau 24 Zeilen hat Kurt Platz, um Hildegard von den Abenteuern der letzten Monate und seinen traumatischen Erfahrungen zu berichten. Auch dürfen die Gefangenen höchstens zwei Briefe pro Woche schreiben. Die Sprache in den Briefen ist daher oft lakonisch, ein Satz muss eine ganze Geschichte erzählen.
Internee No. 7029, No. 2 Internment Camp,
Tatura (Victoria), Australia
Meine liebe Hildegard!
Du hast richtig gelesen: Ich bin in Australien. Wie ich dahin gekommen bin? Auf einem englischen Schiff ums Kap. – Wir sollten vorher schon einmal nach Kanada verschifft werden. Dieses Schiff wurde von einem deutschen U-Boot torpediert, und wir alle haben nur das nackte Leben gerettet.
IN AUSTRALIEN (Kapitel 9, Teil 1/4)
Noch am selben Tag werden die Gefangenen mit dem Zug ins Innere des Landes gebracht, nach Tatura, einer Kleinstadt im südlichen Bundesstaat Victoria. Dort und woanders haben die Australier schon mehrere Lager für die Tausenden von Kriegsgefangenen und Internierten, die aus England ankommen, vorbereitet. Die Lager sind weit von den australischen Städten entfernt, damit die Insassen keinen Kontakt zur australischen Bevölkerung aufnehmen können. Kurts Lager besteht aus achtzehn Baracken in Reih und Glied, einem großen Speisesaal und ein paar Wirtschaftsgebäuden, ringsherum ein doppelter Stacheldraht und ein Wachturm mit Scheinwerfern an jeder Ecke. Um das Lager, so weit das Auge reicht, nichts als Einöde. Ein Lager am Ende der Welt. Langsam lernen die Männer, wieder auf festem Boden zu stehen, drei Mahlzeiten am Tag an einem Tisch sitzend einzunehmen und sich selbst menschenwürdige Lebensumstände zu schaffen. Das australische Klima ist ungewohnt trocken, und es geht auf einen heißen Sommer zu. Weihnachten, denkt Kurt, wird wie in Südafrika im Hochsommer sein.
Genau ein Jahr ist vergangen, seitdem Kurt Südafrika bei Nacht und Nebel verlassen hat, um seine Freiheit zu behalten – nur um sie hoffnungslos zu verlieren. Es ist kaum zu glauben, was er in diesem Jahr durchgestanden und überlebt hat: die heimliche 2000 Kilometer lange Fahrt von Kapstadt bis an die Grenze Südafrikas, dann 110 Kilometer zu Fuß durch den dichten, dornigen Busch in Swasiland. In Lourenço Marques: Malaria. Das Warten auf ein Schiff, das ihn in die Heimat bringen soll, die Abfahrt auf der deutschen Uhenfels als schwer arbeitender rußiger Kohlentrimmer und dann der Anfang des Unglücks: die Beschlagnahme durch ein britisches Schiff, der Beginn der Gefangenschaft, das Scheitern aller Pläne. Das Lager im schwülen Regenwald, Verschiffung nach England, weitere Lager, der Tunnelbau und noch einmal Hoffnung auf Freiheit. Dann 28 Tage Isolationshaft, unerträgliche Einsamkeit. Das Betreten der Arandora Star, ein Tag später der Sprung von der Reling, der steil aufgerichtete Rumpf des untergehenden Schiffs, der gefährliche Sog in die Tiefe, als es im Meer verschwindet, der sich schnell ausbreitende Ölteppich, Hunderte von schreienden Kameraden und Mitinternierten, die vor seinen Augen ertrinken. Die vielen Stunden in der Kälte und Weite des Meeres, dann die Rettung des nackten Lebens. Wieder in einem Lager in England, und schon eine Woche später auf einem neuen Dampfer, der Dunera. Zwei Monate im dunklen Bauch des Schiffs mit Hunderten von Mitgefangenen auf engstem Raum, brutale Schikane durch die Aufseher, keine frische Luft. Schließlich die ersten Schritte an Land auf einem Kontinent, der weiter weg nicht sein könnte – von zu Hause, von Südafrika.
Was hat Kurt in dieser Zeit die Kraft gegeben, nicht aufzugeben, seinen Verstand nicht zu verlieren? In seinem ersten Brief aus Australien an Hildegard findet man noch einmal eine klare Antwort: Als ich vom Schiff aus ins Wasser sprang, um mein Leben zu retten, hielten mich nur zwei Gedanken aufrecht: der Gedanke an meine Mutter, die ich vor einer zweiten Todesnachricht einer ihrer Söhne bewahren wollte, und der starke und feste Wille, Dich wiederzusehen und gemeinsam mit Dir meinen zukünftigen Weg zu gehen.
Nur langsam erholen sich die Internierten von den Strapazen und Entbehrungen auf der Dunera, dem Schiff, das Jahre später als der berüchtigtste Gefangenentransport in die britische Kriegsgeschichte eingehen wird. Im Jahr 1941 ordnet das britische Kriegsministerium unter zunehmendem Druck der britischen Öffentlichkeit eine Untersuchung an und stellt die Offiziere der Dunera vor ein Kriegsgericht. Das Ergebnis der Untersuchung wird geheim gehalten, doch werden die Betreffenden degradiert, aus den Streitkräften entlassen oder zu Militärgefängnisstrafe verurteilt.
Gleich nach seiner Ankunft im australischen Lager schreibt Kurt nach vielen Monaten des unfreiwilligen Schweigens einen Brief nach Kapstadt, wo Hildegard sehnsüchtig und voller Unruhe auf Post wartet. Die Catholic Welfare Organisation stellt den Internierten Briefpapier zur Verfügung, später auch das Rote Kreuz und die Australian Young Men’s Christian Association. In der rechten oberen Ecke des Briefpapiers steht auf jeder Seite die ironische Aufforderung: „It is not sufficient to live, but to live well.“ – Nicht nur leben solle man, sondern gut leben!
Anstatt in der damals üblichen Sütterlinschrift verfassen die deutschen Gefangenen in den ersten Monaten ihre Briefe in gut lesbarer lateinischer Druckschrift, denn jeder Brief wird von einem Zensor gelesen, bevor er den Stempel „Passed by Censor – Services of Prisoners of War” bekommt. Einige Briefe kommen mit herausgeschnittenen Vierecken an. Das vorgegebene Briefformat ist nicht größer als eine halbe Schreibmaschinenseite und das Papier darf nur einseitig beschrieben werden. Genau 24 Zeilen hat Kurt Platz, um Hildegard von den Abenteuern der letzten Monate und seinen traumatischen Erfahrungen zu berichten. Auch dürfen die Gefangenen höchstens zwei Briefe pro Woche schreiben. Die Sprache in den Briefen ist daher oft lakonisch, ein Satz muss eine ganze Geschichte erzählen.
Internee No. 7029, No. 2 Internment Camp,
Tatura (Victoria), Australia
Meine liebe Hildegard!
Du hast richtig gelesen: Ich bin in Australien. Wie ich dahin gekommen bin? Auf einem englischen Schiff ums Kap. – Wir sollten vorher schon einmal nach Kanada verschifft werden. Dieses Schiff wurde von einem deutschen U-Boot torpediert, und wir alle haben nur das nackte Leben gerettet.
Kommentar
Allgemeine Zeitung
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