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Journale - Afrikanischer Heimatkalender 2004

Gleich acht Autoren des neuen Afrikanischen Heimatkalenders 2004 befassen sich mit der Aufarbeitung der deutsch-namibischen Kolonialgeschichte von vor 100 Jahren und ihrem Erbe.

Nur ein Beitrag steht außerhalb dieses Rahmens und setzt sich mit dem Maler Ulrich Schwanecke auseinander.


Sebastian Mantei, Hörfunkredakteur in Magdeburg, hat den deutsch-südafrikanischen Künstler aufgesucht, dessen eigenwillige Aquarelle schon länger zur Landschaftsinterpretation Namibias gehören.


Der Herausgeber des Kalenderjournals, Informationsausschuss der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Namibia (Delk), hat sich vor dem Hintergrund der zu erwartenden Veranstaltungen zur 100. Wiederkehr der Kolonialkriege um 1904 vorsätzlich diesem Thema zugewandt. Damit erhalten die Leser des Kalenders eine fachliche und ethische Interpretationshilfe. Zur kritischen Behandlung der anstehenden Fragen, die in letzter Zeit zunehmend kontrovers aufgeworfen wurden, kommen wahrscheinlich die "hellsten Köpfe" zu Wort. Noch mehr als die namibische Tagespresse, die das Thema aktuell und sporadisch begleitet, dürfte der Heimatkalender 2004 seine Leser, denen Zukunft und Vergangenheit Namibias am Herzen liegen, hier sowohl für Diskussionen als auch zu sinnvollem Gedenken ausstatten.


Leider liegt in der Sprache sogleich die leidige Begrenzung auf Deutschsprachige im Land und in Übersee. Gerade diese Ausgabe verdient es, in vollem Umfang auch über Englisch, Afrikaans und/oder Otjiherero nationale Verbreitung zu finden. Ein Beitrag (Ngavirue) liegt schon auf Englisch vor, den Prof. Manfred Hinz und Helgard Pathemann in Deutsche übersetzt haben.


Bischof Reinhard Keding setzt mit der Frage, "Wieviel Vergangenheit verträgt Gegenwart?" eingangs den Rahmen zur Geschichtswertung: "So wenig wie die eigene Lebensgeschichte durch Weglassen oder ideologisierende Deutung eine bessere Geschichte wird, so wenig wird es auch die Geschichte einer Nation." Der Versuchung des Weglassens und der Verharmlosung stellt er eine aktive Herausforderung gegenüber: sich den Tatsachen stellen, Schuld anerkennen und wieder gutmachen. Für die Anspruchsvollen rückt Keding das Thema noch in die Verkettung der Kausalität sowie in den metaphysischen und theologischen Rahmen.


Zwei Beiträge bringen das Hauptthema endlich aus der Perspektive der Herero: Zedekia Ngavirue, ausscheidender namibischer Botschafter in Brüssel, mit der "100. Wiederkehr der Widerstandskriege von 1904 ... der Wahrheit ins Auge sehen und Versöhnung festigen" sowie Werner Wienecke, Theologe, "Der Befreiungskrieg von 1904 - 1907 in der Überlieferung der Herero". Dazu Ngavirue: " ... das Hauptziel der Bewertung von und des Umgangs mit den deutsch-namibischen Beziehungen, wie sie durch die Kriege von 1904 und den Ereignissen vor und im Gefolge jenes Jahres geformt wurden, (sollte) darin bestehen, in den Menschen, die das Schicksal zusammenbrachte, das Beste hervorzubringen ..."


Wienecke belegt, wie "Unkenntnis und Arroganz" in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zunehmend ein Klima schufen, "das ein Zusammenleben von Deutschen und Herero immer weiter erschwerte". Unkenntnis und Arroganz sind ohne Frage auch die Gefahrenzeichen 100 Jahre weiter im Jahre 2003/04, da der Heimatkalender sich bemüht, eine aufgeklärte Erinnerungskultur zu schaffen. - Der Autor bietet im Übrigen aus den Hereroquellen zum aufschlussreichen Verständnis viele erstaunliche Details, die bisher wenig Beachtung gefunden haben, darunter besonders der Brief des Häuptlings Samuel Maharero über die Kriegsursachen an Gouverneur Leutwein. Zwischen Leutwein und Maharero wird trotz des Krieges ein Respektsverhältnis belegt.


Der Historiker Joachim Zeller schöpft in seinem Beitrag "Erinnern und Vergessen - Der Kolonialkrieg von 1904 bis 1908 in der namibischen und deutschen Gedenkkultur" aus gründlichen Recherchen sowohl in Deutschland als auch in Namibia. Denkmäler und Gedenkrituale stehen im Mittelpunkt, von Traditionstreffen ehemaliger Schutztruppler in Deutschland nach dem 1. Weltkrieg bis zu den Herero-Truppenspielen in Okahandja, letztere "Ergebnis eines kreativen Prozesses der Kriegsbewältigung". Die Akzeptanz bzw. die Verwerfung seiner pauschalen Völkermordthese in Bezug auf Herero und Nama erhebt Zeller übrigens für Deutschsprachige in Namibia erneut zum Maßstab, ob sie sich weiterhin einem "erinnerungspolitischen Tabu" und der "Verdrängung" unterwerfen oder zu "dezidierter Kolonialismuskritik" fähig sein können. Zeller endet seinen Beitrag mit einer differenzierten Beurteilung sowohl der Reiterinitiative (Errichtung eines zusätzlichen Gedenksteins am Reiterdenkmal), des neuen Heldenackers am Südausgang von Windhoek sowie der Reparationsforderung von Chef Kuaima Riruako. Treffend schließt er seinen Text mit einem Faulkner-Zitat: "Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen."


Aus der für ihn kennzeichnenden intellektuellen Perspektive befasst sich der Politologe Henning Melber mit "Vergangenheit, Verdrängung, Versöhnung" und warnt dabei unter anderem vor staatlich verordneter Amnesie, wie sie in Ländern zu erfahren ist, in denen die Kultur der Erinnerung von oben diktiert oder zentral kontrolliert wird. Das Hauptthema macht Melber mit einem Titelzitat erkenntlich: "Ein Morgen kann nicht ohne das Gestern gebaut werden."


Eine besondere Bereicherung für Landeskenner dürften die beiden folgenden Themen sein: Wolfgang Reith, Konrektor, - Das Königshaus Tjamuaha/Maharero und die Oberhäuptlingsschaft bei den Herero (1. Teil) - und Dag Henrichsen, Historiker - "Schimpferei auf die Deutschen", Erfahrungen von Kaera Ida Getzen-Leinhos während des Kolonialkrieges in Namibia 1904 bis 1908. Reith führt in die vereinfachte Stammtafel des Königshauses Tjamuaha/Maharero ein und unterscheidet sorgfältig zwischen der Macht- und der Ehrenstellung der Häuptlinge jener Zeit. "Schädlich" für die derzeitig "politische korrekte" Heldenverehrung dürfte die Eröffnung sein, dass Samuel Maharero sich zur Zeit Leutweins ausdrücklich für die Hinrichtung (durch die Deutschen) zweier seiner führenden Widersacher - Nikodemus und Kahimemua -eingesetzt hatte, an deren Rindern sich übrigens auch Hendrik Witbooi (heute auf den Banknoten) bereichern durfte, wie es der Zeitgenosse und Siedler Gustav Voigts überliefert hat.


Henrichsen gewährt über Kaera Ida Getzen-Leinhos einen faszinierenden Einblick in die kulturelle und Blutsvermischung um 1904 sowie in die Kriegswirren zwischen beiden Lagern. Somit kann man schon gespannt der ausführlichen Biographie von Ida Getzen-Leinhos entgegensehen.


Zum Hauptthema noch dazu gehörig behandelt Alf Rößner, Denkmalspfleger, historische Kontakte zwischen "Weimar und Windhuk" sowie zwischen deutscher "Klassik und Kolonie". Der Großherzog Karl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach (1818-1901) erscheint hier als Mäzen sowohl der Kunst, Wissenschaft und Literatur als auch als Schirmherr des Kolonialgedankens und für Afrikaforscher. Hermann von Wissmann, Carl Peters, Adolf Lüderitz und Theodor Leutwein gehören zu den Forschern, Händlern und Kolonialbeamten, die nach Weimar kamen. Das "Hotel Großherzog von Sachsen", früher an der Ecke der heutigen Frans Indongo/Werner List-Straßen im Zentrum Windhoeks, ist bereits vor der Unabhängigkeit Namibias dem Geschäftszentrum Mutual Platz gewichen.


Der neue afrikanische Heimatkalender 2004 bietet eine brisante Fundgrube und damit aktuelle Begleitung für das nächste Jahr.


Wer an allzuviel kontroverser Geschichtsbetrachtung ermüden sollte, darf getrost zum Kalendarium mit Originalfotos von Gretel Keding, Adelheid Esslinger und Inge und Roland Knöll zurückblättern. In den geistlich-besinnlichen Begleittexten für jeden Monat von Dieter Esslinger trifft der Leser wieder auf universell Menschliches, gleichzeitig aber auf die unverwechselbare namibische Variante unserer Existenz.

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2025-05-24

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