„Jetzt beginnt die Freiheit“
Die Schwäbin Marlies ist eine „Granny Au Pair“ in Windhoek
Von Evelyn Rosar, Windhoek
Morgens um halb zehn gibt es im Seniorenstift Oude Rust Oord in Windhoek Kaffee und Tee. Harry setzt sich zu den anderen Bewohnern unter die Lapa in den Innenhof. Etwa 40 von insgesamt 160 sind an diesem Dienstagmorgen gekommen. Harry hat eine Stofftasche dabei. Den Inhalt tastet er jetzt ab. Die lilafarbene Basecap trägt er zum Schutz vor der Sonne. Die Sonnenbrille trägt er nicht nur zum Schutz vor der Sonne, sondern vor allem wegen der Blicke der anderen. Der 82-Jährige kann kaum noch etwas sehen. Er will nicht, dass man seinen leeren Ausdruck in den Augen bemerkt.
Jetzt hat er, was er sucht: einen Einmalrasierer. Den hält er hoch wie einen Pokal. „Marlies!“, ruft er, hält den Rasierer noch höher. Eine Frau, graue, kurze Haare, tailliertes Kleid und Sportschuhe, dreht sich um. „Morgen machen wir das!“, ruft sie zurück, während sie auf ihn zugeht. Sie beugt sich zum sitzenden Harry, fährt ihm über die Wangen. „Oh, sehr gut. Hast dich heute selbst rasiert“, stellt sie fest. Harry nickt, sinkt tiefer in die Bank und sucht den Eingang seiner Tasche, um den Rasierer wieder verschwinden zu lassen. Er scheint zufrieden mit Marlies‘ Antwort zu sein. „Morgen“, wiederholt sie noch einmal, „werde ich dich dann wieder rasieren.“ Harry lächelt.
Alle zwei Tage betreibt Marlies bei Harry Bartpflege. Sie ist die sogenannte Granny Au Pair des Seniorenstifts. Sie kommt aus Stuttgart, ist für drei Monate freiwillige Helferin im Oude Rust Oord. Nächste Woche wird ihre letzte Woche sein. Noch fünfmal wird sie Harrys Gesicht von den Stoppeln befreien.
„Das wird hart für ihn“, sagt Elizabeth Swart, die Sozialarbeiterin des Seniorenheims. Bis die 69-jährige Schwäbin kurz vor Weihnachten hier eingetrudelt war, war Harry ein Eigenbrötler. Er ist seit fünf Jahren da, hat bisher keinen an sich rangelassen, jeden grob abgewehrt. Dann kam Marlies.
Was ist anders bei ihr? Sie ließ ihm gar keine Gelegenheit, sie wegzuschicken. „Gleich am ersten Tag habe ich mich neben ihn gesetzt und erzählt und erzählt.“ Sie hat sich ihren Platz neben ihm auf der Bank und damit in seinem derzeitigen Alltag einfach genommen. Die ehemalige Krankenschwester ist unbefangen und wirkt furchtlos. „Sie ist lebendig und scheint immer an mehreren Plätzen gleichzeitig zu sein“, so beschreibt Swart sie. Es ist kaum möglich, Marlies nicht wahrzunehmen. Selbst Harry, der nicht gut sieht, weiß, wenn sie in der Nähe ist.
„Angst hatte ich schon“, gibt Marlies über ihren Schritt, alleine nach Afrika zu gehen, zu. Eine Granny (Großmutter) ist sie nur hier in Windhoek. Sie hat einen dreißigjährigen Sohn namens Clemens. Als er neun gewesen war, starb Marlies‘ Mann. Heute kommentiert der heutige Polizist jeden Whatsapp-Status seiner Mama, schickt Herzen und „Daumen hoch“. Er ist stolz, dass er so eine mutige Mutter hat, erzählt Marlies. Damals, als Clemens noch klein und sie plötzlich alleinerziehend war, konnte sie ihre Nachtdienste als Krankenschwester nicht mehr ausführen, schulte um auf Bürokauffrau, damit sie ihrer Rolle als Mutter gerecht werden konnte. Jetzt ist sie in Rente und sagt über ihren neuen Lebensabschnitt: „Nun beginnt die Freiheit! Wer weiß, ob ich das, was ich jetzt mache, noch in einem Jahr machen kann.“ Als Beschützer hat sie zwei Engel mit nach Namibia genommen, die in ihrem jetzigen Wohnzimmer hängen.
Ihre Freiheit 8000 Kilometer von Zuhause ist in mehrere Tages-Etappen getaktet: 6.30 Uhr aufstehen, 7.30 Uhr frühstücken. Um 9.15 Uhr holt sie Erika ab, fährt sie mit dem Rollstuhl zum Lapa-Kaffee. Nachmittags gibt es Rommé, Bingo oder Gymnastik. „Konkrete Pflichten habe ich als Granny Au Pair keine“, sagt Marlies, die gerne von jedem mit Vornamen angesprochen wird. „Ich suche mir meine Aufgaben, bin für jeden da, der mich braucht“, meint sie. Die meiste Zeit ist sie Zuhörerin. Von der 101-jährigen Heide, die im Alter von Mitte 20 von ihrem Vater alleine gelassen wurde, als der entschied, zurück nach Deutschland zu gehen. Als junge Frau führte sie in Eigenregie die einstige Familienfarm weiter. Oder von Sophie, die viel von ihrer verstorbenen Tante, der Schauspielerin Paula Denk, erzählt. Denk war befreundet mit Schriftsteller Klaus Mann und Regisseur Gustaf Gründgens. Vergangene Geschichten und Schwarzweiß-Fotos treiben sie im Internet auf.
Ihren schönsten Moment hatte Marlies mit Inge. Die 94-Jährige kann kaum mehr gehen. Einen gemeinsamen Hof-Ausflug per Rollstuhl wollte sie nicht antreten, ohne sich für die Schwäbin schick gemacht zu haben. Für einen Outfit- und Frisurencheck musste der große Spiegel von zwei Personen hinter dem Schrank hervorgeholt werden. „Ich finde es beeindruckend, wie viel Wert Inge mit 94 Jahren auf ihr Äußeres legt und wie bedeutend scheinbar das kleine Treffen für sie war“, sagt Marlies. Als Inge für einen letzten Toilettengang vor der Spazierfahrt ins Bad gehievt wird, berühren ihre Zehen kaum den Boden, ihre Stimme ist fest. Sie singt: „Des Wandern ist des Müllers Lust…“, und alle im Raum fangen an zu lachen. „Mit was für einem Humor diese Frau ihrem Alter trotzt“, stellt Marlies fest. Sie erinnert sich gerne an diese Szene und will sich an Inge ein Beispiel nehmen, meint sie.
Aber eigentlich hat die Abenteurerin das ja bereits getan, als sie vor drei Monaten mit 69 Jahren in den Flieger nach Afrika gestiegen ist. Marlies war immer unterwegs. Mit 18 als jugendliche Au Pair in England, später drei Jahre in Neuseeland und Australien. Warum jetzt Namibia? „Da war ich noch nicht. Wegen der vielen Deutschsprachigen hier dachte ich: ‚Das bekommste gewuppt‘!“ Ein nächstes Ziel hat sie auch schon. „Ob ich das, was ich jetzt mache, noch in einem Jahr machen kann?“ - Diese Frage hat sich Marlies längst beantwortet, ihr nächstes Ziel: Südafrika. Da möchte sie im kommenden Jahr als Au Pair hin.
Was wird aus Harry, wenn Marlies nächste Woche abreist? „Der wird nun langsam entwöhnt“, sagt sie. Seit vier Jahren kommen drei Granny Au Pairs pro Jahr ins Oude Rast Oord, immer aus Deutschland, vermittelt über die Hamburger Agentur „Granny Au Pair“. Bei aller Fürsorge muss man pragmatisch sein, meint die Sozialarbeiterin Swart. „Abschied ist immer schwer, aber keine Granny ist jemals gegangen, ohne etwas zu hinterlassen.“ Wie die perfekte Rasur funktioniert, weiß Harry jetzt.
Morgens um halb zehn gibt es im Seniorenstift Oude Rust Oord in Windhoek Kaffee und Tee. Harry setzt sich zu den anderen Bewohnern unter die Lapa in den Innenhof. Etwa 40 von insgesamt 160 sind an diesem Dienstagmorgen gekommen. Harry hat eine Stofftasche dabei. Den Inhalt tastet er jetzt ab. Die lilafarbene Basecap trägt er zum Schutz vor der Sonne. Die Sonnenbrille trägt er nicht nur zum Schutz vor der Sonne, sondern vor allem wegen der Blicke der anderen. Der 82-Jährige kann kaum noch etwas sehen. Er will nicht, dass man seinen leeren Ausdruck in den Augen bemerkt.
Jetzt hat er, was er sucht: einen Einmalrasierer. Den hält er hoch wie einen Pokal. „Marlies!“, ruft er, hält den Rasierer noch höher. Eine Frau, graue, kurze Haare, tailliertes Kleid und Sportschuhe, dreht sich um. „Morgen machen wir das!“, ruft sie zurück, während sie auf ihn zugeht. Sie beugt sich zum sitzenden Harry, fährt ihm über die Wangen. „Oh, sehr gut. Hast dich heute selbst rasiert“, stellt sie fest. Harry nickt, sinkt tiefer in die Bank und sucht den Eingang seiner Tasche, um den Rasierer wieder verschwinden zu lassen. Er scheint zufrieden mit Marlies‘ Antwort zu sein. „Morgen“, wiederholt sie noch einmal, „werde ich dich dann wieder rasieren.“ Harry lächelt.
Alle zwei Tage betreibt Marlies bei Harry Bartpflege. Sie ist die sogenannte Granny Au Pair des Seniorenstifts. Sie kommt aus Stuttgart, ist für drei Monate freiwillige Helferin im Oude Rust Oord. Nächste Woche wird ihre letzte Woche sein. Noch fünfmal wird sie Harrys Gesicht von den Stoppeln befreien.
„Das wird hart für ihn“, sagt Elizabeth Swart, die Sozialarbeiterin des Seniorenheims. Bis die 69-jährige Schwäbin kurz vor Weihnachten hier eingetrudelt war, war Harry ein Eigenbrötler. Er ist seit fünf Jahren da, hat bisher keinen an sich rangelassen, jeden grob abgewehrt. Dann kam Marlies.
Was ist anders bei ihr? Sie ließ ihm gar keine Gelegenheit, sie wegzuschicken. „Gleich am ersten Tag habe ich mich neben ihn gesetzt und erzählt und erzählt.“ Sie hat sich ihren Platz neben ihm auf der Bank und damit in seinem derzeitigen Alltag einfach genommen. Die ehemalige Krankenschwester ist unbefangen und wirkt furchtlos. „Sie ist lebendig und scheint immer an mehreren Plätzen gleichzeitig zu sein“, so beschreibt Swart sie. Es ist kaum möglich, Marlies nicht wahrzunehmen. Selbst Harry, der nicht gut sieht, weiß, wenn sie in der Nähe ist.
„Angst hatte ich schon“, gibt Marlies über ihren Schritt, alleine nach Afrika zu gehen, zu. Eine Granny (Großmutter) ist sie nur hier in Windhoek. Sie hat einen dreißigjährigen Sohn namens Clemens. Als er neun gewesen war, starb Marlies‘ Mann. Heute kommentiert der heutige Polizist jeden Whatsapp-Status seiner Mama, schickt Herzen und „Daumen hoch“. Er ist stolz, dass er so eine mutige Mutter hat, erzählt Marlies. Damals, als Clemens noch klein und sie plötzlich alleinerziehend war, konnte sie ihre Nachtdienste als Krankenschwester nicht mehr ausführen, schulte um auf Bürokauffrau, damit sie ihrer Rolle als Mutter gerecht werden konnte. Jetzt ist sie in Rente und sagt über ihren neuen Lebensabschnitt: „Nun beginnt die Freiheit! Wer weiß, ob ich das, was ich jetzt mache, noch in einem Jahr machen kann.“ Als Beschützer hat sie zwei Engel mit nach Namibia genommen, die in ihrem jetzigen Wohnzimmer hängen.
Ihre Freiheit 8000 Kilometer von Zuhause ist in mehrere Tages-Etappen getaktet: 6.30 Uhr aufstehen, 7.30 Uhr frühstücken. Um 9.15 Uhr holt sie Erika ab, fährt sie mit dem Rollstuhl zum Lapa-Kaffee. Nachmittags gibt es Rommé, Bingo oder Gymnastik. „Konkrete Pflichten habe ich als Granny Au Pair keine“, sagt Marlies, die gerne von jedem mit Vornamen angesprochen wird. „Ich suche mir meine Aufgaben, bin für jeden da, der mich braucht“, meint sie. Die meiste Zeit ist sie Zuhörerin. Von der 101-jährigen Heide, die im Alter von Mitte 20 von ihrem Vater alleine gelassen wurde, als der entschied, zurück nach Deutschland zu gehen. Als junge Frau führte sie in Eigenregie die einstige Familienfarm weiter. Oder von Sophie, die viel von ihrer verstorbenen Tante, der Schauspielerin Paula Denk, erzählt. Denk war befreundet mit Schriftsteller Klaus Mann und Regisseur Gustaf Gründgens. Vergangene Geschichten und Schwarzweiß-Fotos treiben sie im Internet auf.
Ihren schönsten Moment hatte Marlies mit Inge. Die 94-Jährige kann kaum mehr gehen. Einen gemeinsamen Hof-Ausflug per Rollstuhl wollte sie nicht antreten, ohne sich für die Schwäbin schick gemacht zu haben. Für einen Outfit- und Frisurencheck musste der große Spiegel von zwei Personen hinter dem Schrank hervorgeholt werden. „Ich finde es beeindruckend, wie viel Wert Inge mit 94 Jahren auf ihr Äußeres legt und wie bedeutend scheinbar das kleine Treffen für sie war“, sagt Marlies. Als Inge für einen letzten Toilettengang vor der Spazierfahrt ins Bad gehievt wird, berühren ihre Zehen kaum den Boden, ihre Stimme ist fest. Sie singt: „Des Wandern ist des Müllers Lust…“, und alle im Raum fangen an zu lachen. „Mit was für einem Humor diese Frau ihrem Alter trotzt“, stellt Marlies fest. Sie erinnert sich gerne an diese Szene und will sich an Inge ein Beispiel nehmen, meint sie.
Aber eigentlich hat die Abenteurerin das ja bereits getan, als sie vor drei Monaten mit 69 Jahren in den Flieger nach Afrika gestiegen ist. Marlies war immer unterwegs. Mit 18 als jugendliche Au Pair in England, später drei Jahre in Neuseeland und Australien. Warum jetzt Namibia? „Da war ich noch nicht. Wegen der vielen Deutschsprachigen hier dachte ich: ‚Das bekommste gewuppt‘!“ Ein nächstes Ziel hat sie auch schon. „Ob ich das, was ich jetzt mache, noch in einem Jahr machen kann?“ - Diese Frage hat sich Marlies längst beantwortet, ihr nächstes Ziel: Südafrika. Da möchte sie im kommenden Jahr als Au Pair hin.
Was wird aus Harry, wenn Marlies nächste Woche abreist? „Der wird nun langsam entwöhnt“, sagt sie. Seit vier Jahren kommen drei Granny Au Pairs pro Jahr ins Oude Rast Oord, immer aus Deutschland, vermittelt über die Hamburger Agentur „Granny Au Pair“. Bei aller Fürsorge muss man pragmatisch sein, meint die Sozialarbeiterin Swart. „Abschied ist immer schwer, aber keine Granny ist jemals gegangen, ohne etwas zu hinterlassen.“ Wie die perfekte Rasur funktioniert, weiß Harry jetzt.
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Allgemeine Zeitung
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