Ein Spaziergang zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Betritt man ein Museum oder eine Galerie, verhält man sich normalerweise wie eine Maus: leise, vorsichtig und möglichst unauffällig wandert man durch die Räumlichkeiten, sodass auch ja nichts zu Schaden kommt und man mit seinem Verhalten niemanden stört. Nicht so in einer der aktuellen Ausstellungen in der National Art Gallery in Windhoek. Denn betritt man den Raum, in dem die Werke der Ausstellung gezeigt werden, steht man auch schon mitten im Kunstwerk. Der Boden ist aufgeschüttet mit Sand – übersät mit aus Ton gefertigten Schädeln. Schädeln, die durch die Schritte der Besucher zerstört werden und an den Genozid an Nama und Herero erinnern sollen. Sie sollen den Opfern der Schlachten Gesichter geben. Ihre Zerbrechlichkeit soll die Zerbrechlichkeit des Lebens darstellen.

„Die Kolonialzeit in Namibia ist ein Thema, das absolut unzureichend aufgeklärt ist“, meint Künstlerin Isabel Tueumuna Katjavivi. „Ich traf viele Menschen, die so gut wie nichts darüber wissen“ – in ihrer Stimme schwingt Entsetzen mit – „die tatsächlich in Namibia leben und nichts darüber wissen. Nicht wissen, dass das Independence Museum in Windhoek auf einem Grundstück steht, wo einst ein Konzentrationslager Platz hatte. Dass Häuser in Swakopmund etliche Menschen begraben. Dabei wurden über 50 Prozent der Nama ermordet – bei den Herero sind es sogar 80 Prozent.“ Der Genozid begleite uns bis heute, hänge in der Luft und in den Ästen eines jeden Baumes, so Katjavivi.

Die Ausstellung der Künstlerin trägt den Namen „They Tried to Bury Us“ – sie versuchten, uns zu begraben. Katjavivi selbst ist Namibierin, mit einem Herero-Vater und einer britischen Mutter. Ihre Kindheit verbrachte sie in Namibia, bis sie mit 15 Jahren gemeinsam mit ihrer Familie nach Belgien zog. Für ihr Studium der visuellen Kunst zog es die junge Frau wieder nach Namibia, wo sie bis heute lebt und aktuell ihre Masterarbeit beendet, die sich ebenso um das Thema des Genozids dreht. Nach einer kreativen Abstinenz fand sie ihren Weg zurück zur Kunst, indem sie an einem Wettbewerb der Bank Windhoek teilnahm – den sie kurzerhand gewann. In Rahmen dieser Veranstaltung entstand der Ursprung ihrer aktuellen Ausstellung: ein Grab mit einem Menschen aus Ton, das sie „The Past is not Buried“ (Die Vergangenheit ist nicht begraben) nannte. Die jetzige Ausstellung in der National Art Gallery, die man sich noch bis zum 8. September ansehen kann, soll tiefer in die Thematik eintauchen, ein kollektives Bewusstsein schaffen und den Eindruck vermitteln, selbst auf einem Schauplatz des Genozids zu stehen. Man solle sich vorstellen, wie es wäre, ein Schlachtfeld zu durchqueren – weswegen sie in Otjinene Bilder aufnahm und diese so groß drucken ließ, dass sie beinahe die ganze Wand des Ausstellungsraums bedecken. Otjinene sei der Ausgangspunkt ihres Wirkens, sagt Katjavivi heute. „Dieser Ort hat eine schwere Aura. Er ist sehr schön. Macht man sich aber klar, was dort passierte, sieht man alles in einem ganz anderen Licht.“

Viel mehr Menschen in Namibia sollten sich Katjavivi zufolge klar machen, was dort passierte. Viel wichtiger sei es ihr aber, an die Menschen zu erinnern, die dort umkamen. Sie wolle mit ihrer Kunst eine Gedenkstätte für die Opfer errichten, weswegen der Fokus auf den Gesichtern liege. Damit solle deutlich gemacht werden, dass der Genozid nichts Abstraktes, sondern Teil der Gesellschaft sei. „Wir müssen die Vergangenheit ausgraben und sie ans Licht bringen. So können wir sicher machen, dass die folgenden Generationen aus der Vergangenheit lernen können.“ Zudem reiche die Vergangenheit in die Gegenwart hinein: schließlich kamen die Vorfahren etlicher Nama und Herero bei den Kämpfen um. Die Ausstellung solle demnach zu einem Spaziergang zwischen dem „Jetzt“ und dem „Damals“ einladen. Als Träger der Zeit inszeniert Katjavivi die Bäume von Otjinene: „Dies sind Bäume, an denen Menschen erhängt wurden. Sie waren Zeugen des Genozids, haben gleichzeitig aber die Veränderungen erlebt, die sich seither zutrugen.“

Die Kunst sei ein indirekter Weg, um die Geschichten der Opfer und der Grausamkeit des Genozids zu erzählen. Kunst greife niemanden an und lasse Spielraum, um die Gedanken schweifen zu lassen. Dafür eigne sich laut Katjavivi die visuelle Kunst in besonderem Maße, da sie immer mit einem Erlebnis verbunden sei. „Ich mag die visuelle Kunst, weil sie – anders als eine Ausstellung mit Malereien – eine Erinnerung schafft. Man erinnert sich, wie man herumlief, auf die Schädel getreten ist oder ihnen auswich“, so die Künstlerin. Es sei eine Emotion, die länger im Gedächtnis bleibe, als lediglich von Bild zu Bild zu wandern. Und genau das „ist mein Ziel. Ein Andenken zu schaffen“, erklärt Katjavivi. „Die Opfer zu anzuerkennen und die Vergangenheit zu verstehen“ – dies sei essentiell, um als intakte Gesellschaft existieren zu können. Der Genozid habe laut der Künstlerin nämlich bis heute Auswirkungen auf die Psyche der Namibier. „Denn“ – Katjavivi zitiert James Baldwin „wir sind unsere Geschichte.“

Von Caroline Niebisch, Windhoek