Die Fäden in der Hand

Eine Kirche, eine Klinik, eine Tankstelle, eine Post und ein Lädchen. Damit erschöpft sich Leonardville für den Auswärtigen wirtschaftlich auch schon. Ein Örtchen an den Ausläufern der Kalahari. 150 Kilometer westlich von Gobabis gelegen, menschenleer, verschlafen. Von allem scheint es hier nicht viel zu geben. Das gilt auch für Arbeitsplätze. Doch in einem terracottafarbenen Gebäude halten 15 Frauen mit farbenfrohen Tüchern auf dem Kopf die Fäden selbst in der Hand. Sie verarbeiten wilde Seide. Ihre Manufaktur „Kalahari Wild Silk“ ist in Namibia einzigartig.
Paulina Links schneidet graubraunen Hülsen mit der Schere ein Ende ab. Ihre Kollegin kratzt mit einer Art Häkelnadel den Inhalt heraus: schwarze vertrocknete Raupen. Larven der Gonometa-Postica-Motte. Farmarbeiter haben sie von Kameldornbäumen, Hakendornakazien und Prosopisbäumen abgelesen. Für Vieh und Wild kann eine Kostprobe tödlich sein – die harten Kokons sind unverdaulich. Richtig behandelt, verwandeln sie sich jedoch in den kostbaren Rohstoff wilder Seide. Deshalb kaufen die Frauen jetzt, zur Erntezeit, große Mengen von den Farmarbeitern ab.
Im Garten, an drei Ziegen vorbei, bewachen zwei junge Männer ein offenes Feuer mit zwei großen schwarzen Kesseln. Darin brodeln großmaschige Plastiknetze, aus denen dunkle, algenartige Fetzen heraushängen. Die Kokons werden weich gekocht. Bis vor vier Jahren nutzten die Frauen dafür einen mannshohen Durchlauferhitzer in der Fabrik. Er ist defekt. Deshalb muss es auf althergebrachte Weise gehen. 60 bis 90 Minuten brauchen die Kokons im heißen Wasser. Dann werden sie getrocknet. Das Ergebnis ist ein hellbraunes verfilztes Büschel, etwa in der Größe einer A4-Seite.
Klack, klack, klack. Martilina Naugawases und Alwina Namses halten per Fußpedal das Spinnrad in Bewegung. Mit der einen Hand zupfen sie aus dem zerzausten Kokonfilz grobe Fadenstränge heraus, mit der anderen ziehen sie einen dünnen Faden glatt. Sie sitzen in einem sonnendurchfluteten Raum mit gelb getünchten Wänden. Früher diente er als Laden für alles. Nun verteilen sich darin allerhand Spinnräder und Webstühle.
2003 wurde das Wildseide-Projekt von dem Südafrikaner Ian Cummings gegründet. In erster Linie, um Frauen im Ort eine Beschäftigung zu geben. Zeitweise zählte die Fabrik 25 Festangestellte und bis zu 300 zeitweise beschäftigte Mitarbeiter. Als Cummings 2006 starb, begann für die Frauen eine schwierige Zeit. Es war an ihnen, Organisation und Vertrieb selbst in die Hand zu nehmen. Die meisten sprangen ab. Das Monatsgehalt zwischen 300 und 600 N$ war ihnen angesichts der mühsamen Arbeit einfach zu wenig. Der harte Kern von aktuell 15 Frauen entschied sich weiterzumachen. „Sonst würden wir doch auch nur zu Hause rumliegen“, sagt Anna Uies. „Wir sind unsere eigenen Chefs“, betont Regina Garises. Gebäude und Grundstück gehören ihnen. Bevor sie sich ihr Einkommen teilen, müssen erst Elektrizität, Wasser und Kokons bezahlt werden. Doch seit bereits knapp acht Jahren erhalten sie das kommunale Projekt in eigener Verantwortung am Leben. Eine Erfolgsgeschichte, die in Namibia zur großen Ausnahme gehört.
Anna Uies schützt ihren Rock mit einer Plastiktüte vor unnötigem Verschleiß. Der Wunsch aller Frauen: Irgendwann einmal vom erzielten Überschuss eine richtige Arbeitsuniform für alle kaufen zu können. Anna Uies‘ Aufgabe ist, den gesponnenen Faden auf einheitlich 30 oder 60 Meter Länge zu bringen. Das tut sie, indem sie ihn um einen auf dem Boden stehenden Holzrahmen herum spannt, der sie an Höhe überragt.
Jeweils eines dieser beiden Maße wickelt Regina Garises auf eine Holzspule und setzt diese in einen der Webstühle. Dann tritt sie beherzt ein Fußpedal und schiebt schwungvoll ein Holzschiffchen mit Faden von einer Seite zur anderen. Auf diese Weise formiert sich Faden hinter Faden langsam zum Stoff. Die Arbeit ist so aufwändig, dass die Frauen zusammen pro Tag im Schnitt nur zwei Schals produzieren. Gefertigt werden unter anderem auch Gardinen, Tisch-, Über- und Bettdecken sowie Kissenbezüge. Plus Auftragsarbeiten. Kunden sind vor allem Touristen, Lodges und Hotels auf der ganzen Welt. Hierzulande verkauft werden die Kalahari-Wildseide-Produkte im Craft Centre in Windhoek sowie auf Bio-Märkten und Messen.
„Wir könnten sogar Jacken und kompliziertere Dinge herstellen, aber dafür fehlen uns die Maschinen“, sagt Regina Garises. „Unsere jetzigen Geräte reichen nur für gerade Sachen.“ An der Wand steht ein antennenartiges Gebilde, daneben eine runde Maschine, an der zwei Socken baumeln. Was damit gemacht wird? „Mit dem runden Gerät kann man Socken fertigen“, erzählen die Frauen. Nur wie, das wissen sie nicht. Und wozu das große Monstrum gut ist, hat ihnen nie jemand gesagt. Beides sind Geschenke, zu denen sie keine Einführung bekamen. Allerdings hoffen sie, irgendwann auch Spinnrad und Webstuhl gegen moderne – elektrische – Technik austauschen zu können. Dann wären sie automatisch schneller und produktiver, sagen sie. Und würden im Endeffekt sicherlich auch etwas mehr verdienen.
Das Endprodukt wird noch gefärbt. Auch das geschieht mangels heißen Wassers in der Fabrik notgedrungen draußen. Benutzt wird Textilfarbe in feiner Körnchenform. Die Auswahl ist riesig. Erfahrungsgemäß hoch im Kurs bei den Käufern stehen Grün, Blau und Naturton. Ein fertiges Muster hält Lena Haoses in die Sonne: blau-kariert, an beiden Enden gefranst. „Ein robuster Stoff“, lobt sie. „Außerdem ist er weich und sehr schön warm.“